Gummibärchen und Weihnachten
Ein Widerspruch in sich?
Nicola Döring
Universität Heidelberg
(c) 1997-1998
Winterbärchen
Die verbreitete Vorstellung, daß Gummibärchen selbstzerstörerisch
veranlagt sind und deswegen absichtlich Jahr für Jahr in kollektive Winterstarre fallen,
so daß sie notorisch das Weihnachtsfest verpassen, ist in Fachkreisen mittlerweile als
Mythos entlarvt. Dennoch ist eine signifikante Reduktion des bärigen Aktivitätsniveaus
in der kalten Jahreszeit nicht zu leugnen: Die Bärchen werden träge und
winterschläfrig, sie leiden unter kalten Pfoten, sind verschnupft, maulfaul, zum
komplexen Denken und Problemlösen kaum mehr in der Lage (Funke, 1994), und auch ihre
Paarungsbereitschaft läßt zu wünschen übrig.
Aber damit nicht genug: Ihre Netzaktivitäten beschränken sich auf
(unkonzentriertes) Lurken und Browsen (Gerdes, 1996), zur Teilnahme an standardisierten
Online-Befragungen sind sie partout nicht zu bewegen (Batinic, 1996) und selbst das
einladende WWW-Labor boykottieren sie den ganzen Winter hindurch (Reips, 1995). Daß die
Bärchen unter diesen Umständen aus dem Verband psychologisch interessierter User
(VpiU e.V.) ausgeschlossen wurden, ist nur allzu verständlich. Ob Gummibärchen
"gute Menschen" sind, ist noch unklar, "gute Versuchspersonen" sind
sie sicher nicht. Rosenthals (1974) dreibändiges Standardwerk "Warum können sich
Gummibärchen nicht wenigstens einmal sozial erwünscht verhalten?" ist
Pflichtlektüre für alle, die sich über die wahre Natur der Bärchen nach wie vor
Illusionen machen.
Weihnachtsbärchen
Alles deutet darauf hin, daß Gummibärchen beim besten Willen nicht
in der Lage sind, ein so traditionsreiches Ereignis wie das Weihnachtsfest in all seinen
psychosozialen Dimensionen (vgl. Christ & Kindl, 1953) mit der angemessenen Pietät
und Würde zu gestalten. Wenn es einem nicht sofort wieder als Bärchen-Diskriminierung
ausgelegt würde, könnte man in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß Gummibärchen
ohnehin eingefleischte Partymuffel sind. Und der Umstand, daß bei vielen Bärchen
körperliche und charakterliche Elastizität Hand in Hand gehen, sollte uns dazu
veranlassen, die Zurückhaltung der Bärchen an hohen Feiertagen eher wohlwollend als
kritisch zur Kenntnis zu nehmen.
Wollen wir uns dennoch dem Weihnachtsverhalten der Bärchen
wissenschaftlich nähern, so bieten vier Forschungsperspektiven Anknüpfungspunkte:
Neuere Ergebnisse der Gummibärchen-Feldforschung stellen die
vermutete Distanz (oder sollte man besser sagen: Ignoranz) der Bärchen inbezug auf das
Weihnachtsfest in Frage. So berichtet Hoeppner (1997)
mit bemerkenswerter Freimütigkeit vom weihnachtlichen und vorweihnachtlichen
"Treiben" der Bärchen. Es ist jedoch zu befürchten, daß sich der Autor bei
seinen Expeditionen ins Bärchenreich ein wenig zu sehr mit den uns im Grunde artfremden
Wesen identifizierte ("going gummi") und somit in seiner Darstellung womöglich
zur Idealisierung neigt. Kann man bei Bärchen wirklich von adventlichem
"Brauchtum" sprechen? Unbestritten ist jedoch die Tatsache, daß (gerade in
letzter Zeit) immer wieder Bärchen angetroffen wurden, die heimlich kurz vor Ladenschluß
große Mengen Christbaumschmuck (insbesondere Lametta) kauften. Auf den Verwendungszweck
angesprochen, reagierten die Bärchen allerdings meist unwirsch oder verlegen. Da sie
zudem den Kauf von Weihnachtsbäumen
strikt ablehnten und diese Verhaltensauffälligkeit nur mit fadenscheinigen Umweltschutz-Argumenten zu rechtfertigen wußten, muß man
wohl schließen, daß die Bärchen das Lametta in Wirklichkeit schamlos zweckentfremden.
Ist es blasphemisch oder nur neurotisch, ausgerechnet an christlichen Feiertagen gegen
heidnische Gebräuche zu verstoßen? Dieser Frage sollte man nachgehen. Aber die
unappetitlichen Details des bärigen Lametta-Mißbrauchs ersparen wir uns an dieser
Stelle.
Ob Gummibärchen von Weihnachten buchstäblich nichts wissen oder
nur einfach nichts wissen wollen, wird in der biopsychologischen Bärchenforschung
kontrovers diskutiert. So zeigen physiologische Messungen, daß Gummibärchen auf verbale
und grafische Darstellungen des Weihnachtsmannes vollkommen indifferent reagieren
(Erdmann, 1995), was tatsächlich dafür sprechen könnte, daß sie sich aus Weihnachten
schlichtweg nichts machen. Andererseits läßt sich der Befund aber auch als Indiz dafür
interpretieren, daß Gummibärchen sexistische Darstellungen vehement ablehnen und den
Stimulus "Weihnachtsmann" deswegen demonstrativ überhören bzw. übersehen.
Fordert man Gummibärchen auf, weihnachtsbezogene Begriffe nach
Sympathie zu rangordnen, so zeigt sich, daß Bärchen beiderlei Geschlechts nicht etwa wie
erwartet "Weihnachtsperson", sondern "Weihnachtsfräulein" den Vorzug
geben. Dieser inzwischen mehrfach replizierte Befund (s. Trömel-Plötz, 1992, 1996) hat
die feministische Gummibärchen-Forschung zunächst in zwei, später in vier
widerstreitende Lager gespalten. Man sieht schon: Auch in dieser Frage haben sich die
Bärchen nicht gerade mit Ruhm bekleckert.
Daß die Gummibärchen-Gesellschaft seit den 60er Jahren unter
fortschreitender Individualisierung und Pluralisierung der Lebens- und Tütenmodelle
leidet (Klages, 1993) ist nicht zu übersehen: Gummibärchen unterhalten sich ständig
über die Postmoderne (oder das, was sie dafür halten) und manche finden das sogar
regelrecht "chic". Nun ja, an Weihnachten zeigt sich, was Gummibärchen davon
haben: Eine durchschnittliche Gummibärchen-Patchworkfamilie besteht aus 6,1 Mitgliedern,
die im Mittel 7,4 Herkunftstüten entstammen (Noelle-Neumann, 1993, S. 34). Wo soll man da
Weihnachten feiern? Offensichtlich gibt es niemanden, der den orientierungslosen Bärchen
den Weg weisen könnte. Und selbst wenn es jemanden gäbe, würden die Bärchen überhaupt
einen wohlmeinenden Rat annehmen? Den weihnachtlichen Alkohol-Exzessen der
Bärchen sollte man trotzdem mit Nachsicht begegnen - es steht zwar nicht gut um die
Bärchen, aber noch sind Hopfen und Malz nicht ganz verloren. Und das ist doch eigentlich
eine frohe Botschaft.
Literatur
Batinic, B. (1996). Bärige Nonrespondenz bei Online-Umfragen. Zeitschrift
für angewandte Bärchenpsychologie, 5 (2), 9-16.
Christ, J. & Kindl, M. (1953). Weihnachten. Phänomenologie
eines Phänomens. Tübingen: Mohr.
Erdmann, G. (1995). Vegetative und endokrine Bärchen-Reaktionen im
Paradigma "Weihnachtsmann". In G. Debus, G. Erdmann & K.W. Kalle (Hrsg.), Biopsychologie
des Gummibärchens (S. 87-98). Göttingen: Hogrefe.
Funke, J. (1994). Saisonale Schwankungen in der komplexen
Problemlösefähigkeit bei Gummibärchen. Ergebnisse einer Zeitreihenanalyse. Bonn:
Holos.
Gerdes, H. (1996). Immer nur Lurken und Browsen? Erfolge und
Mißerfolge bei Internet-Trainings mit Gummibärchen. Zeitschrift für angewandte
Bärchenpsychologie, 5 (2), 32-47.
Hoeppner, W. (1997). Was die Gummibären
zu Weihnachten treiben. Adventskränze, Maulwurfstag und Anderes. Zeitschrift für
angewandte Bärchenpsychologie, 6 (4), 78-89.
Klages, H (1993). Traditionsbruch als Katastrophe: Wertezerfall
in der Bärchengesellschaft. Frankfurt: Campus.
Noelle-Neumann, E. (1993). Das Allensbacher Jahrbuch der
Bärchen-Demoskopie 1984-1992. München: Saur.
Reips, U. (1995). Probleme der Probanden-Anwerbung für das
WWW-Labor unter besonderer Berücksichtigung von Bärchen, Hackern und Cyberpunks. Zeitschrift
für experimentelle und quasiexperimentelle Forschung, 17 (1), 3-21.
Rosenthal, B. (1974). Warum können sich Gummibärchen nicht
wenigstens einmal sozial erwünscht verhalten? (Band 1-3). New York: Springer.
Trömel-Plötz, S. (1992). Sprache, Bärchen, Weihnachten und Macht.
Linguistische Berichte, 86, 1-14.
Trömel-Plötz, S. (1996). Gewalt in weihnachtlichen und
vorweihnachtlichen Gesprächen. Opladen: Westdeutscher Verlag.
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