Rund 130 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fanden sich in der ersten Maiwoche 2000 im Ashridge House bei London ein, um in 47 Präsentationen und 4 Keynotes die sozialen Folgen moderner Informations- und Kommunikationstechnologie zu diskutieren. Psychologie, Soziologie, Kommunikations- und Medienwissenschaften waren am stärksten vertreten auf der vom Virtual Society? Programme veranstalteten zweitägigen Konferenz mit dem appellativen Titelzusatz Get Real!. Das 1997 gestartete und von Prof. Steve Woolgar (Brunel University) geleitete Virtual Society? Programme vereint 22 Einzelprojekte an 25 Universitäten Großbritanniens. Finanziert wird es mit einem Volumen von 3 Millionen Pfund vom Economic and Social Research Council (ESRC). Da das Programm noch in 2000 ausläuft, war die Konferenz für die Projektbeteiligten, die etwa die Hälfte der Präsentationen bestritten, ein Anlass, Bilanz zu ziehen und gleichzeitig die eigene Arbeit mit Forschungsaktivitäten in anderen Ländern zu vergleichen schließlich waren Beiträge aus Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Irland, Jugoslawien, Kanada, den Niederlanden, Norwegen, Russland, Schweden und den USA vertreten. In vier Parallel-Sessions wurden virulente Aneignungs- und Gestaltungsfragen (z.B. Partizipation, Evaluation, Datenschutz) in unterschiedlichen Anwendungskontexten (z.B. Telearbeit, Telelernen, Telemedizin) und im Hinblick auf verschiedene Bevölkerungsgruppen (z.B. Nichtnutzer, Netzaussteiger, Nutzerinnen) behandelt. Sozialpsychologische Konzepte spielten dabei oft eine zentrale Rolle. Drei Bespiele seien herausgegriffen:
Was es mit dem Virtuellen nun eigentlich auf sich hat, das blieb eine die gesamte Konferenz durchziehende offene Frage. Weitgehender Konsens bestand darin, Dichotomisierung und Dramatisierung zu vermeiden: Das Virtuelle steht eben nicht dem Realen als Konkurrenzmodell gegenüber; stattdessen beobachten wir vielfältige mehr oder minder subtile Wechselwirkungen zwischen Online- und Offline-Aktivitäten, deren Konsequenzen nicht pauschal, sondern jeweils nur unter Berücksichtigung der konkreten Nutzungskontexte und Nutzergruppen zu beurteilen sind. Damit relativieren sich sowohl utopische als auch dystopische Deutungen des Virtuellen. Wie ist nun die Brücke zu schlagen von individuell und lokal ausdifferenzierten Aneignungsformen zum gesamtgesellschaftlichen Wandel in Richtung auf eine "virtuelle Gesellschaft"? Ist vieles, das heute unter dem futuristischen Label "virtuell" firmiert, vielleicht gar nicht so neu und gesellschaftsbestimmend, wie es scheint? Ja, ist nicht Gesellschaft immer schon virtuell gewesen? Oder unterschätzt ein Skeptizismus, der auf die letztlich immer enttäuschten hohen Erwartungen im Zusammenhang historisch früherer Innovationen hinweist und die Virtualität des Altbekannten proklamiert vielleicht das Ausmaß der aktuellen Transformation - etwa auf globaler Ebene? Wir wissen es nicht. Und dafür steht das Fragezeichen im Virtual Society? Programme. Es wurde durch die Konferenz bekräftigt und um eine lange Fußnote ergänzt, die über die Website des Virtual Society? Programme zugänglich ist und Abstracts (sowie später auch Papers) aller Konferenzbeiträge enthält. Für das Gelingen der Konferenz ist nicht nur den Beiträgerinnen und Beiträgern, sondern natürlich insbesondere der perfekten Organisation unter Leitung von Dr. Caroline Ingrim zu danken. Im luxuriös renovierten ehemaligen Kloster Ashridge, das seit den 50er Jahren als Management College und Konferenzzentrum genutzt wird und hinsichtlich konferenztechnischer Ausstattung nichts zu wünschen übrig lässt, trifft das Virtuelle auf eine besonders noble Variante des Realen: Vom vernetzten Präsentationsrechner ließ sich abends nach einem Bad im Pool die Email-Korrespondenz erledigen und gleichzeitig der Ausblick auf die wunderschöne Parkanlage genießen. An den heimischen Schreibtisch zurückgekehrt, verbindet sich das Virtuelle nun freilich mit einer profaneren Ausprägung des Realen, genau wie es Steve Woolgar mit seinem Abschiedsgeschenk an alle Kongressbeteiligten vorhergesagt hatte:
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